Dreimal 30 Jahre

Von Thomas Bez am 12.04.2019, aktualisiert am 24.12.2019

Weblog Tedesca <http://www.tedesca.net>

 

Eine Zwischenbilanz

Die Zahl 30 ist ein Mythos. 30 Jahre nennt man ein Menschenalter, die Frist ist lang genug, um für sich genommen ein ganzes Leben zu sein. Das Leben währet aber siebzig Jahre und wenn es hochkommt, sind es inzwischen sogar neunzig Jahre. Wer auf sich achtet, kann den Turnus bis zu dreimal in seinem Leben durchlaufen, und wer im Geiste jung geblieben ist, kann aus jedem 30sten Jahr einen Paradigmenwechsel machen. Die 30 ist eine Zahl wahrhaft nach menschlichem Maß.

Das erste 30-jährige Trimester unseres Lebens lebten wir rechts von einer Mauer in einem kleinen, albernen, ernsthaften Land und bereiteten uns auf das vor, was wir von der Welt erwarten konnten. Das kam in jenem zweiten Drittel unseres Lebens, das uns ordentlich in der Welt herumführte. So lange, bis wir nach weiteren knapp 30 Jahren die nötigen Mittel uns erarbeitet hatten, aus unserem Überdruß an der erschlafften globalisierten Welt die Konsequenz zogen, allen Gewerbefleiß von uns warfen und uns in heiteren Müßiggang des Privatlebens zurückzogen </weblog/1472492694:0.html>.

Kürzlich fand die diesjährige Münchner Sicherheitskonferenz statt, und diesmal war die Stimmung anders als in all den Jahren zuvor. Diesmal störte nicht nur der russische Außenseiter mit einer Ansage. Zu unserer Überraschung hörten wir bittere Worte des Veranstalters, daß auf der internationalen Bühne nicht mehr wie gewohnt miteinander gesprochen wird. Sozusagen das vormals übliche Protokoll der Feindseligkeit durch eine unprotokollarische Feindseligkeit abgelöst wurde. Die globale Sicherheit sei heute so gefährdet wie seit 30 Jahren nicht mehr. Was wir schon länger wissen konnten, haben wir nun sozusagen amtlich: Die Welt ist aus den Fugen.

Wir haben das Jahr 2019, und Mitte des Jahres wird wieder das große Plappern und Schulterklopfen derer anheben, die von der Nachverwertung der Revolution vor 30 Jahren leben, an der sie keinen Anteil hatten. Und da wir schon wieder den einen oder anderen Afterwissenschaftler hören, der sich ein Zubrot mit einem Referat über die Mauer in den Köpfen verdient, wollen wir ein wenig über eine neue reale Mauer spekulieren, deren Errichtung noch vor Frist der nächsten 30 Jahre Europa erneut teilen sollte. Es gibt nichts zu feiern und wir werden hier erläutern, warum.

I.


Hieronymus Bosch, Die Versuchung des Heiligen Antonius
Quelle: Wikimedia Commons, Public Domain

So eine friedliche Revolution ist eine feine Sache, besonders weil sie Investoren nicht verschreckt. Die Nation hätte sich zu einer ganz anderen entwickelt als der, mit der wir es heute zu tun haben, wäre es damals zur Eskalation zwischen Staatsmacht und Straße gekommen. Einerseits wäre das ein längerer Weg zur von vielen ersehnten Einheit geworden, andererseits hätte Deutschland heute eine Verfassung und hätte den Besatzungszustand hinter sich gelassen. So manche Investition wäre dem Beitrittsgebiet erspart geblieben und es gäbe mehr Arbeit im eigenen Land. Man nennt es Freiheit. Jetzt kommt östliches Selbstbewußtsein 30 Jahre zu spät.

Die Revolution geschah am 4. November 1989 in Berlin. Dies war der Tag, da die Staatsmacht in sich zusammensackte. (Manche sagen, dies geschah schon am 9. Oktober in Leipzig. Das wollen und können wir nicht bestreiten, dort waren wir nicht dabei.) Für die, die nicht auf dem Alexanderplatz gestanden haben oder die sich nicht mehr erinnern können: Es waren Dichter und Schauspieler, die diese Demonstration initiiert hatten und dort, ironischerweise sekundiert durch einen abtrünnigen Geheimdienstchef aus illustrer Familie, sprachen. Wahrlich eine zutiefst romantische Revolution, ein wenig 19tes Jahrhundert vor den Toren des 21sten.

Am Mittag war jedem klar, daß danach nichts mehr bleiben würde, wie es war. Der 9. November und im Jahr darauf der 3. Oktober waren nur noch der vulgäre Abgesang auf diese Revolution, die Wegmarken ihres überschnellen Scheiterns, ihr Abrutschen in die Farce. Die Polen, Tschechen, Slowaken und Ungarn hatten das Glück, es nicht so leicht zu haben wie die Deutschen im Beitrittsgebiet. Sie mußten ihren Weg aus dem Ostblock selbst finden. Das war weniger Sicherheit, mehr Arbeit, was immer mehr Freiheit gebiert. Heute gehören ihre Länder noch immer diesen Völkern, der Grund und Boden wie die Macht darin.

Die Umwälzung ging von der Straße aus, von denen, die offen geltendes Recht brachen und zum Rechtsbruch aufriefen; das gehört dazu. Von denen, die dem Staat das Schlimmste androhten; das war damals: ihn zu verlassen. Die organisierten Oppositionsgruppen hingegen, bleibewillig, immer kompromiß- und gar kooperationsbereit, erpicht auf staatliche Anerkennung, infiltriert von einer Unzahl von Spitzeln und Staatsschergen, im Effekt staatstragend, waren im Westen wohlangesehen, aber auch nur dort. Von denen wollte das Volk im Osten nicht regiert werden. Man sehe sich nur die an, die später im Westen zu Macht und Ämtern kamen: die meisten davon gehörten zu diesem Klüngel.

Auf der Straße kann alles passieren. Die Avantgarde rief: Wir sind das Volk. Doch je größer die Masse, desto dümmer. Bald hieß es: Wir sind ein Volk. Und schließlich: Kommt die D-Mark, bleiben wir, kommt sie nicht, gehn wir zu ihr. Auf wessen Konto auch immer diese Parole geht, propagandistisch war sie ein großer Wurf. Diese Einladung zur Usurpation war mehrheitsfähig, die Volksmasse gierte nach dem Westen, nach der Welt, nach dem Geld. Da waren die Geschenke, die der regierenden Partei die Wiederwahl sicherten, gerade recht, und das Volk bekam die Wonnen des Geldes, konnte einmal einen überteuerten Urlaub in den Alpen machen, die Pauschalreise in den Süden und bekam schließlich so viel von der Welt, daß es sie dann doch nicht mehr wollte. Es ist das selbe Volk, das heute, 30 Jahre später, die Geister, die es rief, wieder loswerden will. Die Globalisierung des 21sten Jahrhunderts übersteht kein Volk.

Aber wir waren jung genug, uns mit ihr zu arrangieren. Uns ging damals der würdelose Beitritt nichts mehr an. Am 4. November hatten wir auf dem Alexanderplatz gestanden. Am 9. November verließen wir unsere Arbeit wie immer spät, sahen daheim noch ein paar Fernsehbilder von der beginnenden Unterwerfung. Dann suchten wir unsere persönliche Freiheit und wandten uns für die nächsten beinahe 20 Jahre wieder ausschließlich unserer beruflichen Karriere in der freien Wirtschaft und unseren privaten Bildungsinteressen zu. Und unsere heutige Machthaberin begann ihre politische Laufbahn mit ihrem flinken Beitritt </weblog/1515294970:741745.html> zum Demokratischen Aufbruch.

Wir hatten nur wenig zuvor die übliche 19-jährige Ausbildungszeit aus Schule, Militärdienst und Studium hinter uns gebracht. Zu jener Zeit und in jenem Land galt es noch als ehrenvoll, ein MINT-Fach zu studieren. Aber damals konnte auch noch lesen, schreiben und rechnen, wer sich immatrikulierte. Der Bedarf an geisteswissenschaftlichen Staatskarrieristen, die der Gesellschaft auf der Tasche liegen, war noch nicht so hoch wie heute. Wir hatten allerdings auch schon mit zehn Jahren ein klares Ziel, was wir tun wollten. Wir hören, daß es heute viele mit dreißig immer noch nicht wissen. Erwachsen zu werden hat der Städter in diesem Land nicht mehr nötig.

Wir waren nach unserer Ausbildung befreit von etlichen Konformitätszwängen, hatten begonnen, wider den Stachel zu löcken und wußten, was wir erreichen wollten. Für uns war es irrelevant, ob die Deutschen denn nun ein Volk oder derer zwei seien. Aus der absehbar untergehenden Akademie der Wissenschaften planten wir mit einigen Gleichgesinnten die Ausgründung eines Softwareunternehmens und hatten uns die Mitarbeiter ausgewählt, die wir uns wünschten. Dann kamen die großen Firmen mit teils extra neugegründeten Entwicklungszentren und einem praktisch pauschalen Stellenangebot. Pläne versanken in einem Strom des Geldes, die Gefolgschaft löste sich augenblicklich auf und das Unternehmenskonzept war gescheitert. Wir konnten uns dann nur noch selbst das beste Angebot aussuchen.

Wir wollen uns keineswegs über die rundum abgesicherte Beschäftigung, angestellt in einem Konzern, basierend auf einem Vertrag, wie er in den 1990er Jahren noch üblich war, beschweren. Von denen, die heute in eine qualifizierte Tätigkeit starten wollen, finden nur noch wenige solche Bedingungen vor. Diese Beschäftigungsweise ist allerdings auch viel zu komfortabel, um gut zu sein für einen jungen Menschen. Es dauerte für uns noch mehr als 15 Jahre, bevor wir endlich den nächsten Absprung in die Selbständigkeit machten und noch zehn Jahre auf eigene Rechnung arbeiteten. Die Globalisierung sorgt gut für ihre Leute. Für die Zyniker unter ihnen ist es wichtig, lange genug zu funktionieren und nicht zu früh auszusteigen.

II.


Hieronymus Bosch, Der Wanderer
Quelle: Wikimedia Commons, Public Domain

Vorerst arbeiteten wir in Berlin, München, Leipzig als Landsknecht der Globalisierung <http://www.tedesca.com>, die aber für die Firma insgesamt eine eher mißlungene Globalisierung werden sollte. Wir bereisten für unseren Beruf die Welt. Wir waren in Taiwan und lernten, daß Taiwanesen ihre liberal-demokratische Eigenstaatlichkeit mitnichten übermäßig hoch schätzen. Ihr kultureller Bezug zu "Mainland China" rangiert höher und das Mutterland ist eine Art Sehnsuchtsort, von dem sie sich abgeschnitten fühlen. In Amerika haben wir gelernt, daß ein Chinese in erster Linie ein Chinese und loyal zu China ist, wo auch immer in der westlichen Welt er studiert oder arbeitet. Blut ist eben doch dicker als Wasser, jedenfalls in einer Kultur, deren Bindekräfte stark genug sind, ihr Volk über Jahrtausende zusammenzuhalten.

In Vietnam haben wir gesehen, welche Schaffenskraft ein Volk hat, das diszipliniert ist und gewohnt, für sich selbst zu sorgen. Wir können gar nicht genug das Lob der nichtislamischen asiatischen Nationen singen. Das Gegenmodell haben wir in Malaysia gesehen, wo die Wertschöpfung in den Händen der chinesischen Minderheit liegt, die Drecksarbeit die Inder machen und die einheimischen Mohammedaner so ziemlich garnichts.

In Amerika haben wir gesehen, wie die Deplorables leben </weblog/1251619559:997226.html> in Flyover-Country, das schon eine Autostunde weg von den Metropolen beginnt und wo die Leute heute sicherlich Trump wählen. Kaum etwas anderes hätte uns so versöhnen können mit dem eigentlich geringgeschätzten Amerika wie diese Tafel vor einem Waldgebiet am Rande des Olympic National Park: "Forest plantation first harvest 1930. Second harvest 1984. Next harvest 2036. Jobs grow with trees." Dort, am Ende der Welt, war plötzlich ein Jahrhundert wie ein Tag. Hingegen wird uns die Stadt Seattle auf ewig vergeßlich bleiben.

In Australien haben wir Freiheit gespürt, wie sie aus der unermeßlichen Weite des Landes entsteht. In Südafrika sind wir 1998, zehn Jahre nach Ende der Apartheid, zwischen Pretoria und dem Krüger-Nationalpark herumgefahren als Weißer in einem Mittelklasse-Ford auf einer Tour, die schon damals weiße Einheimische die Augenbrauen hochziehen ließ und die heute nach 20 Jahren weiterer Fortschritte im Land lebensgefährlich wäre.

Auf vier Reisen nach Saudiarabien in den Jahren 2000 bis 2003 haben wir die Absurditäten der arabisch-islamischen Welt </weblog/1251568990:597269.html> in konzentrierter Form besichtigen können.

Während wir außerhalb Europas nur geschäftlich unterwegs waren, bereisten wir Europa sowohl beruflich als auch privat. Vor unserer ersten Urlaubsreise nach Frankreich nutzen wir die Gelegenheit, in einem mehrwöchigen Kurs Französisch zu lernen. Die Kenntnis der Sprache sollte uns im späteren Leben noch außerordentlich nützlich werden. Wir waren viel unterwegs in Paris und im wahren Frankreich. Eine der privaten Reisen galten der Besichtigung der gotischen Kathedralen um und in Paris. (Erwin Panofskys "Gotische Architektur und Scholastik" war uns eine sicher etwas ungewöhnliche Inspiration für diese Reise.) Abschluß und Höhepunkt sollte Saint-Denis <http://www.tedesca.net/bez/zweifler/koenigskinder.html> sein, die wichtigste und schönste Kathedrale des Abendlandes. Als wir die schockierende Umgebung sahen, zu der die pariser Vorstadt Saint-Denis geworden war, begannen wir zu verstehen, daß Frankreich über kurz oder lang verloren sein würde. Das war vor 20 Jahren; seitdem haben wir den Gürtel um Paris gemieden. Das Zentrum unseres Abendlandes steht buchstäblich in Flammen.

Wir werden Lissabon, wo wir öfter waren und das wir sehr lieben, immer als die europäischste Stadt in Erinnerung behalten, die wir je gesehen haben. Das nach seiner Zerstörung im 18. Jahrhundert wiedererbaute Lissabon strahlte jedenfalls vor zehn Jahren noch immer den Glanz des überlieferten Europa aus, aber wir glauben nicht, daß dieser Glanz erhalten bleiben wird. Vielleicht ist er mittlerweile schon perdu </weblog/1437938940:100000.html>.

Reisen bildet. Wo andere sich mit einem Vorurteil begnügen müssen, zum Beispiel weil sie es nur nach London-Paris-Amsterdam oder an den Strand von Bali schaffen, steht uns ein Urteil zur Verfügung. Wir können sehr wohl zwischen dem Wert der verschiedenen Kulturen differenzieren. Wir haben Kulturen gesehen, die ihr Volk über Jahrhunderte oder gar Jahrtausende getragen haben und denen die Zeitläufte anscheinend nichts anhaben können, die sich vielmehr immer wieder aus eigener Kraft erneuern. Hermetische Kulturen, die im Bewußtsein ihres Selbst alles Fremde als zweitklassig betrachten. Wir haben Zivilisationen gesehen, die eine Kulturstufe nicht erreicht haben und deren kollektives Gedächtnis nie mehr als sechs Generationen zurückgereicht hat. Wir haben unsere eigene Kultur aus der Perspektive vieler verschiedener Völker studieren können, die einst schwindelnde intellektuelle, ästhetische, innovative Höhen erreicht hat, ihre Peripetie in der fatalen Revolution vor 200 und einigen Jahren gefunden hat und sich seither von einem -ismus zum nächsten ihrer Selbstauslöschung entgegenwindet.

Fremde Kulturen bringen nur selten Bereicherung, man kann sich die meisten sparen, und wer nicht Verstand und Bildung besitzt, die eigene Kultur zu vermessen, braucht auch keines der umliegenden Meere zu überqueren. Wir haben schließlich Kulturen gesehen, die sich nur aus Hemmnissen ihrer selbst zusammensetzen, es niemals geschafft haben, einen Beitrag zur eigenen Fortentwicklung aus sich selbst zu schöpfen und der Welt einzig eine aggressive politische Religion zu bieten haben. Und Kulturen, deren Welthorizonte nicht über ihr das jeweilige Stammesgebiet oder den Herrschaftsbereich ihres jeweils aktuellen Warlords hinausreichen, die noch nach Jahrzehntausenden der Evolution in vorhistorischer Agonie feststecken. Die Gnade war uns zuteil, dies alles zu sehen auf unseren Reisen und zu verstehen. Wer es verstanden hat, weiß, was über unsere erschöpfte, postmoderne, post-aufgeklärte, postheroische Alte Welt kommen wird.

Das Reisen war nach den frühen 2000er Jahren nicht mehr vergleichbar mit dem zuvor </weblog/1395857100:100000.html>. Den Charme des Reisens, dessen letzte Überbleibsel wir in den 1990ern noch erleben konnten, gibt es nicht mehr. Die letzten Reste von Freiheit im Reisen werden nach und nach beseitigt. Auf unserer letzten Reise nach England im Jahr 2015, die auch buchstäblich unsere letzte dorthin gewesen sein möge, haben wir vom Fliegen mit seinen entwürdigenden Prozeduren abgesehen und die Eisenbahn benutzt.

Die meisten unserer Länder konnten wir selbst fahrend erschließen. Die üblichen Sehenswürdigkeiten schätzen wir eher gering, aber wir erfassen und verstehen ein Land, wenn wir es auf uns selbst gestellt durchstreifen können. Taipei, Kuala Lumpur, Hongkong, Mumbai, wo uns das nicht möglich war, bleiben nur blaß in Erinnerung. Ganz anders dagegen Riad <http://www.tedesca.net/Klang-der-Wueste>, Australien, die USA mit Washington <http://www.tedesca.net/Land-der-Twin-Peaks>, Colorado und Florida, oder Südafrika.

Wir haben das Gefühl, genug gesehen zu haben von der Welt. Wir sind über die Jahre des Reisens müde geworden. Auch ist die Welt mit der Globalisierung in den letzten 30 Jahren deutlich kleiner und flacher geworden, und gerade noch Mecklenburg scheint uns groß genug, um unseren Ansprüchen zu genügen. Allerdings fehlt uns Rußland. Wir sind zwar einige Male im Baltikum gewesen, zum Beispiel in Lettland im Frühjahr 1989, was dort eine sehr erregende Zeit war. Aber leider nie in Rußland. Sogar die Sprache brächten wir schon mit. Aber wie viele Leben braucht es, um Rußland zu "er-fahren"?


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Hieronymus Bosch, Das Narrenschiff (Ausschnitt)
Quelle: Wikimedia Commons, Public Domain

Wir verließen das Technologieunternehmen, als unser Bereich in indische Hände geriet. Bei allem Respekt für Inder wollten wir nicht fremden Herren dienen. Wir woben weiter mit an der Globalisierung als Freiberufler in der Finanzindustrie, was uns jeweils für längere Zeit nach Paris, München und Frankfurt führte. Wir pendelten zwischen Berlin und Frankfurt, als die vorerst letzte Welle des Irrsinns begann, über die Deutschen zu rollen und das Land sich binnen kurzer Zeit von einem funktionalen Sumpf in einen dysfunktionalen verwandelte. Wir hatten reichlich Zeit, auf der Autobahn die Nachrichten zu verfolgen, kommentierten in wilder Empörung zu Artikeln in der FAZ und anderen Medien und konnten einfach nicht glauben, was da geschah.

Bis dahin hatten wir zwanzig Jahre lang, von 1990 bis 2009, je nach Opportunität CDU und FDP gewählt </weblog/1379237908:956801.html> und dürfen damit als wohlgesinnte Stütze des alten Systems der BRD gelten. Ein Fehler, den wir uns nicht verzeihen. Damals glaubten wir tatsächlich noch an das Funktionieren demokratischer Systeme, daß es konservative Parteien seien, die wir wählten, und daß unsere Wahlentscheidung der richtige Weg sei, unsere Gesellschaft vor Nihilismus und der Ideologie der kulturellen Beliebigkeit zu bewahren. (Oder, wie das häufig genannt wird: den Kulturmarxismus, obgleich dieser mit Marxismus überhaupt nichts zu tun hat.)

Der Winter unsres Mißvergnügens begann in den Jahren 2011 und 2012 mit dem voluntaristischen Ausstieg aus der Kernenergie </weblog/1379234019:485853.html> ("Energiewende"), EFSF </weblog/1379234218:247323.html> ("Rettungsschirm"), ESM (noch mehr Rettungsschirm) und der Abschaffung der allgemeinen Wehrpflicht. Und munter ging und geht es immer weiter: 2013 die neue große Koalition, 2015 die Freigabe des Landes für die Besiedlung durch die Unterschichten aus der dritten Welt, schließlich die Abschaffung individueller Mobilität in den nächsten 15 Jahren und die Aufgabe der letzten belastbaren Energiegewinnungsoption in den nächsten 20 Jahren. Dies alles unter der Herrschaft einer einzigen Kanzlerin. Wenn wir sie endlich los sind, werden zwei Drittel ihres Regnums ein einziger großer Potlach gewesen sein, von dem sich unser Land nie wieder erholen wird </weblog/1542991214:488580.html>.

Nie haben wir einen Verrat empfunden </weblog/1379237908:956801.html> wie den der 2010er Jahre. Der Staat, in dem wir aufgewachsen sind, war uns verhaßt, aber er hat uns nicht getäuscht. Er war frappierend genau, was er zu sein beabsichtigte und vorgab: die Diktatur des Proletariats in all ihrer Widerwärtigkeit und Berechenbarkeit. Was wir diesem Staat zugute halten können: er suchte keinen Bruch mit unserer deutschen, europäischen, abendländischen Kultur. Er suchte unter ideologischen Schmerzen in den Grenzen seines Begriffes von Sozialismus Kontinuität. Er war nicht religiös, aber auch nicht kommunistisch, sondern opportunistisch, er war nicht russisch, sondern deutsch. So wie Polen polnisch blieb und Ungarn ungarisch.

Der politische Teil unserer Erziehung war darauf hinausgelaufen, dem Staat zu mißtrauen, in dem wir leben, aber uns mit ihm zu arrangieren. Wir sollten unser Tun und unsere Worte gut abwägen, ausreichend Abstand wahren zu Leuten, denen wir nicht ganz vertrauen können, vielleicht gelegentlich einmal kritisch auftreten, aber immer loyal erscheinen. So haben es auch die Eltern <https://de.wikipedia.org/wiki/Helmut_Bez> ihr ganzes Leben lang gehalten. Die Grundkonstante seit Eintritt in die Schule war: Der Junge soll studieren dürfen. So verachteten wir den Staat und wir liebten das Land. Oder, wenn es zu hoch gegriffen ist, hier gleich von Liebe zu sprechen: Unser Land war eine Selbstverständlichkeit, der Staat war keine. Seit wir ein Alter erreicht hatten, da solche Begriffe Gestalt annehmen konnten, vermochten wir zwischen Land, Nation und Staat zu unterscheiden, die Grundlage aller politischen Bildung. Die Loyalität war auf unser eigenes tadelloses Funktionieren angelegt, soweit es die erfolgreiche und gut bezahlte Erwerbstätigkeit in einer soliden Nische der Gesellschaft betraf. So haben wir es immer gehalten und unsere Ausbrüche seit unserer Jugendzeit waren wohldosiert und richteten sich danach, was möglich war ohne die künftige oder bestehende berufliche Existenz zu gefährden. Die entgegengesetzte Möglichkeit, einen Schritt weiter zu gehen und sich dem Staat neben- oder hauptberuflich als Scherge anzudienen, ist unter diesen Prämissen nicht einmal vorstellbar. Den gebildeten Teil des Volkes hat dieses Abstandsprinzip meist gut durch die Zeiten gebracht. Es ist eine Feiung, die ein ganzes Leben lang hält.

Was wäre, wenn? Hätte es 1989 nicht gegeben, nicht Gorbatschow, und wäre dieses kleine, alberne, ernsthafte Land irgendwie über die Runden gekommen: Wie ginge es uns dann heute? Wären wir mit unserer Frau verheiratet? Ja, wir begegneten uns schon in Jugendjahren. Wären wir in der Welt herumgekommen? Wir waren privilegiert qua Bildung und Leistung. Wahrscheinlich wäre Amerika nicht dabei gewesen, aber dafür Rußland. Hätten wir ein gutes Auskommen gefunden? Den guten Start hatten wir schon absolviert, uns standen alle Wege offen, für die wir unsere Seele nicht dem Staat hätten verkaufen müssen, und solche Wege gab es auch damals viele. Hätten wir Briards gezüchtet? Der Keim für diese Leidenschaft war zu jener Zeit bereits gelegt. Unsere Reisen dafür hätten uns vielleicht eher in die Tschechei und Ungarn geführt als nach Belgien und Holland. Würden wir heute in mecklenburger Abgeschiedenheit leben? Vermutlich hätten wir das schon eher geschafft, als es uns in diesem realen Leben gelungen ist, und wir hätten ein Haus weniger gebaut. Was würde uns fehlen? Vielleicht würden wir glauben, daß uns mehr Wohlstand zustünde und wir weiter hätten herumkommen müssen und das tägliche Leben weniger mühevoll sein müßte. Aber solche Dinge glaubt man immer nur. Wären wir frei? Wir hätten einen Ersatz für äußerliche Freiheit in den Freiheiten der inneren Emigration gefunden, ganz genau so, wie wir hier und jetzt in die innere Emigration gegangen sind.

Sind wir, wir und unsere Frau, jemandem außer unseren Familien etwas schuldig? Nein, wir haben selbst gearbeitet, uns privat gegen Risiken des Lebens abgesichert, wir haben nie nach dem Staat gerufen und waren immer in der Lage, unbetreut zu entscheiden. Was wir sind, sind wir durch uns.


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Hieronymus Bosch, Der Gaukler
Quelle: Wikimedia Commons, Public Domain

In den vergangenen 30 Jahren war der Prozeß einer umfassenden Enteignung westlicher Gesellschaften zu beobachten: von Bürgerrechten zugunsten sogenannter Menschenrechte, vom Recht, sich zu verteidigen, von Nation und Kultur. Aus Bürgern wurden einfach nur Menschen, aus der bürgerlichen Gesellschaft die Zivilgesellschaft, aus Staatsbürgern Menschen, die schon länger hier sind, aus Volk wurde Bevölkerung, aus Bildung wurde Kompetenzvermittlung. Mit Jubel stürzen sich die Mehrheiten der autochthonen westlichen Gesellschaften in die Selbstveräußerung, Selbstentmannung, Selbstentleibung. Die neueste Mode ist, wie eine ekstatische Horde Flagellanten einer mental gestörten kindlichen Savonarola zu folgen. Die, die sich aufgerufen fühlen, die Welt zu einem besseren Ort zu machen </weblog/1522346383:762649.html>, schließen ihre Reihen. Die Kulturrevolution sendet ihre Kinderarmeen aus, welche auf eine bereits durchinfantilisierte Gesellschaft treffen in dieser schönen neuen Welt. Ein paar sonnige Freitage lang hüpfende Kinder zwingen das politische System in die Knie und plötzlich will das halbe Volk grün wählen.

Mit 13 Jahren, was unser siebtes Schuljahr war, lasen wir in großer Menge Bücher wie Robert Jungks "Die Zukunft hat schon begonnen". Wir konnten Kernspaltung und Kernfusion erklären und hatten aus eigener Überlegung in die Nähe der Peak-Oil-These oder, entsprechend unserer Lebenswirklichkeit, einer Peak-Coal-These gefunden. Wir hatten verstanden, daß chemische Verbrennung noch die Technik des 19ten Jahrhunderts war, ihre Rohstoffe eines Tages ausgehen werden und wir diese eigentlich für die chemische Industrie bräuchten. Uns war evident, daß es ohne Kernspaltung und schließlich Kernfusion keine Zukunft geben könnte. Diese Ansicht mußten wir seitdem nicht revidieren und wir hätten uns nicht vorstellen können, uns vierzig Jahre später in einer Gesellschaft wiederzufinden, deren visionäre Kraft wieder auf dem Stand des 18ten Jahrhunders angekommen ist </weblog/1379235819:144518.html> und die eine wegen Aufbrauch ihrer Rohstoffe aussterbende Technik gänzlich unreflektiert durch ein Bündel funktional untauglicher Techniken von vorindustrieller Genese ersetzen würde. Noch nie haben wir um uns herum so viel Verblendung gesehen wie heute.

Was in ganz Westeuropa geschieht, besonders aber in unserem Land, ist zu einem großen Teil völlig irrational, mit dem Gesetz des Kapitals nicht erklärbar, aber nach dem Gesetz des Kapitals für eigene Zwecke höchst nützlich, wo ein Verwertungsinteresse besteht. Einerseits möchten wir uns lustig machen über all die Albernheiten und Zeichen kollektiven Wahns, andererseits wissen wir, daß der Rückfall in einen voraufgeklärten gesellschaftlichen Zustand der (west-) europäischen Kultur ein Ende machen wird. Bezeichnenderweise kommt das Allerheiligste, die Eigentumsrechte, zum Schluß. Die werden jetzt zur Disposition gestellt. Aber die Symbiose aus Sozialismus und globalisiertem raffendem Finanzkapital ist nicht der Dritte Weg, nach dem Generationen von verzweifelten Renegaten gesucht haben.

Die freiheitlich-demokratische Grundordnung des Staates BRD ist nicht mehr freiheitlich und ebensowenig noch demokratisch. Real existierende Demokratie ist immer Teil des staatlichen Überbaues und unterliegt der Ausgestaltung durch die herrschende Macht. Demokratie ist also jeweils, was durch die veröffentlichte Meinung als solche bezeichnet wird. Unsere Freiheit beginnt dort, wo wir in Ruhe gelassen werden und dem Staat mit seinen Einrichtungen aus dem Wege gehen können. Was von der Herrschaft über unsere Lebensumstände noch nicht veräußert wurde an angelsächsisch dominiertes Finanzkapital oder die europäische Union und was noch nicht outgesourcet wurde an internationale Freibeuterorganisationen und noch in dem Bereich verblieben ist, über den wir durch Wahlen bestimmen könnten, ist in den Händen des gleichgeschalteten politisch-medialen Komplexes. Kennzeichen der Postdemokratie überall in den Staaten des Westens ist, daß einzig die Exekutive herrscht, die ihren Machtapparat über ein Parteienkartell koordiniert, aus dieser Kaderschmiede ihren personellen Nachwuchs schöpft und die anderen Gewalten eliminiert hat. Den Beginn des Übergangs von Demokratie zur Postdemokratie, die eben keine Demokratie mehr ist, sondern die Tyrannei der Demokraten, verorten wir retrospektiv in den frühen 2000er Jahren. Freilich begann es damals mit nicht mehr als einem vagen Gefühl der Unzufriedenheit mit den Wendungen gesellschaftlicher Verhältnisse, denn wir waren noch nicht politisiert, geschweige radikalisiert. Der Wandlungsprozeß kann heute im größten Teil des einst demokratischen Westens als abgeschlossen betrachtet werden. Es ist nicht mehr anders, als es im ersten Drittel unseres Lebens war, als Staat, Partei, Regierung, Justiz, Massenmedien alles eins waren, eine Einheitspartei oder identische Blockparteien, flankiert von seinen Inoffiziellen, seinen Schlägertrupps und anderem Gesindel. Das Wort Grundordnung ist einigermaßen ehrlich, insofern es dem Staat an einer Verfassung gebricht und dafür muß ein im Takt des Zeitgeistes den Opportunitäten der Herrschaftsausübung angepaßtes Besatzungsstatut herhalten. Die Mehrheit in Deutschland scheint es ja immer noch zufrieden zu sein, also ist es wohl ihre Scheindemokratie.

Die neueste Idee des untergehenden Systems ist, ihren Gegnern oder gleich dem ganzen Volk grundgesetzlich verliehene Rechte abzuerkennen. Drei Dinge wären dazu anzumerken. Erstens: Welche Rechte wären das, mit denen uns das Grundgesetz so großzügig beschenkt, die man uns noch nehmen kann? Aus Lehre, Wissenschaft und Kunst verbannen sie uns heute schon, wenn wir ihnen nicht nach dem Munde reden. Sie können unsere Meinungsäußerungen löschen, sie können uns den Zugang zu den Medien verwehren, in denen heute der normale Bürger seine Meinung öffentlich macht. Sie haben die exekutiven Mittel, uns von der Straße zu entfernen und uns von Hab und Gut, Haus und Hof zu trennen. Dies wäre nicht Deutschland, gäbe es nicht für jede staatliche Untat ein Gesetz. Das Grundgesetz codifiziert die beliebige Nichtanwendbarkeit aller Ansprüche außer den für das Volk belanglosen. Für privilegierte Gruppen ist immer der Rekurs auf die Menschenwürde anwendbar, unabdingbar und auf ewig. Auf die Realisierung unserer bürgerlichen Rechte haben wir hier keinen Anspruch. Um in ihren Genuß zu kommen, müßten wir schon das Land verlassen, so, wie es vor nicht langer Zeit ein hoher Landesbeamter mit einem abgrundtief bösen Satz empfahl, möge die Erde ihm leicht sein. Andererseits: Die Behauptung unserer überpositiven bürgerlichen Freiheitsrechte ist unabhängig von Verfassung oder Grundgesetz, sie sind das Ergebnis einer langen Geschichte der Aufklärung und schließlich der Revolution vor 230 Jahren, der Geschichte des wahren Europa also. Die sie aberkennen wollen, haben bereits den Weg in den Faschismus </weblog/1522346383:762649.html> gewählt. Und schließlich: Das, was kommt, sei es Aufstand und Revolution, sei es faschistische Diktatur, braucht kein Gesetz und weder Gesetz noch Grundgesetz hält die Entscheidung der fundamentalen Machtfrage auf. Haben wir etwa die Macht des mitteldeutschen Staates vor 30 Jahren auf der Grundlage seiner Verfassung gebrochen? Haben sich etwa die Chinesen vor 30 Jahren auf dem Platz des Himmlischen Friedens auf eine irgendwie geartete chinesische Verfassung berufen können oder hat der chinesische Staat eine solche benötigt, um die Aufstände niederzukartätschen? Wenn der Staat dazu übergeht, seine Gegner in Lagerhaft zu nehmen, muß die Exekutive funktionieren, er muß dafür aber kein Gesetz bemühen.


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Hieronymus Bosch, Die Versuchung des Heiligen Antonius (Ausschnitt)
Quelle: Wikimedia Commons, Public Domain

Nirgendwo im Parteiensystem dieses Staates gibt es eine politische Heimat für uns. Wir halten auch nicht viel von der AFD. Es beginnt schon damit, daß diese Partei kein politisches Programm hat, nur ein opportunistisches. Der Flügel macht uns Freude, aber insgesamt ist die Partei viel zu angepaßt </weblog/1487930990:131783.html>, insbesondere im Westen. Natürlich wählen wir sie, denn es gibt ja keine andere Opposition, und eine nicht abgegebene Stimme nützt den Blockparteien. Aber wer wie die AFD Teil des Systems sein will, muß sich anpassen, und wer dem System nur den kleinen Finger reicht, hat schon verloren. Den treibt es bis zur völligen Erschöpfung vor sich her, denn dafür hat es die nötigen Ressourcen. Nur Fundamentalopposition hätte uns imponieren können, doch dazu braucht es Hardliner. Die AFD ist nicht die Bewegung, die das System umwälzen wird. Sie hängt immer noch ihrem naiven Gründungsglauben an, daß man das System auf parlamentarischem Wege von innen heraus reformieren kann.

Revolutionen werden auf der Straße gemacht, nicht im Parlament. Im Parlament werden die Siege vollendet. Das hätte die AFD von den Nationalsozialisten, von der BRD-APO oder der halbvollendeten Revolution 1989 lernen können, wovon das letzte Beispiel zeigt, daß das auch recht friedlich zugehen kann. Doch so, wie sie jetzt agiert, wird die AFD nur ein weiterer Bestandteil des westlichen Systems sein, das orientierungslos, identitätsvergessen und unfähig, seine Feinde zu erkennen, an seinen inneren Widersprüchen zerbricht. Die AFD ist kompromißlerisch, war das bisher unter jeder Führung, ob Lucke, Petry oder Weidel. Jede Rechtfertigung ist aber eine Unterwerfung, jede Distanzierung ein Verrat. Never complain, never explain. Der Staat ist sehr erfolgreich dabei, diese Partei zu zersetzen. Die AFD wird sich früher oder später in der parlamentarischen Mitte etablieren, um so wie die Grünen heute in 30 Jahren selbst zu schmarotzen. Andere Parteien werden hoffentlich kommen. Für eine Erneuerung braucht es allerdings eine, die früher einmal Partei neuen Typus </weblog/1485943169:394061.html> genannt worden wäre und in BR-Deutschland schon gegen das Vereinsrecht verstoßen müßte. Lenin-Lektüre lohnt in jedem Fall, auch für eine konservative Revolution, die sich in der realen Welt abspielen soll und nicht nur innerhalb metapolitischer Schaumschlägereien.

III.

Die Dekadenz einer Gesellschaft bemißt sich weniger an der Größe ihrer Laster, die sie ausübt, sondern vielmehr an der Niedertracht ihrer Werte, die man verehrt.

Thierry Maulnier, zitiert von Dominique Venner


Hieronymus Bosch, Der Garten der Lüste, Mitteltafel
Quelle: Wikimedia Commons, Public Domain

Wer die Mechanismen der Auflösung des Westens verstehen will, dem können wir zwei Bücher besonders ans Herz legen: Arnold Toynbees "Gang der Weltgeschichte" aus der Mitte des 20. Jahrhunderts und Tocquevilles "Demokratie in Amerika", zweihundert Jahre alt. Toynbee ist hierzulande nicht so bekannt wie Spengler, aber als Kulturmorphologe ist er sozusagen der "bessere Spengler", denn sein Ansatz ist systematischer. Und für die Vernutzung in der Argumentation ist Toynbee sehr viel brauchbarer, da er als Engländer nicht als Vordenker des Nationalsozialismus diffamierbar ist. (Welcher Vorwurf, der Spengler notorisch gemacht wird, absurd ist, da gerade dem Nationalsozialismus ein extremer Kulturoptimismus zu eigen war.) Toynbees Interpretation des Lebenszyklus von Kulturen </weblog/1515922417:380157.html> wollen ihr demnächst noch einen gesonderten Beitrag widmen.

Die Positionen des aufgeklärten Aristokraten und des christlichen Gelehrten liegen uns besonders nahe, und daß sie den Niedergang unserer Demokratie und unserer Kultur ex ante erklären, macht ihre Analysen glaubwürding weil frei von Interessen. Ex post muß man nur noch Historiker sein, und wer von denen traut sich heute schon noch, die Dinge beim Namen zu nennen. Wer überhaupt traut sich, die Zustände, die uns umgeben, beim Namen zu nennen, wenn er noch auf einen Broterwerb angewiesen ist? Wir können dies hier nur schreiben, weil wir nicht mehr in der sogenannten freien Wirtschaft dienen müssen. Freiheit, von Orwell einzig zurückgeführt auf Redefreiheit als das Recht, den Leuten zu sagen, was sie nicht hören wollen, ist gelebte Unabhängigkeit und reicht auch genau so weit wie die materielle Unabhängigkeit. Das war schon immer so.

Wann gab sich der Westen auf? Mancher mag dies um den ersten Weltkrieg herum verorten. Wir sehen die Selbstaufgabe des europäischen Westens als eine indirekte Auswirkung von Demokratisierung und Liberalisierung nach dem zweiten. Es begann in den 1960er Jahren in Frankreich sichtbar zu werden. Dominique Venner bringt es in "Das rebellische Herz" auf die Formel, die Frage der Epoche habe für Frankreich darin bestanden, ob Algerien französisch werden würde oder Frankreich algerisch; die einheimischen Eliten hätten alles dafür getan (oder eher unterlassen), daß letzteres geschah. In England gab es 1968 Anlaß für für den Parlamentsabgeordneten Enoch Powell, die "Rivers of Blood"-Rede zu halten, um vor nicht mehr rückgängig zu machender Infiltration zu warnen. Auch in Deutschland wurde in den 1960ern der Grundstein für die Selbstaufgabe gelegt </weblog/1538293010:471898.html>. Nicht anders in den skandinavischen Ländern, Holland, Belgien, Spanien... Aufgrund der demographischen Sachlage und dem unterschiedlichen Vermehrungspotential der ethnischen Gruppen werden sich die Mehrheitsverhältnisse in allen westeuropäischen Ländern in den kommenden 30 Jahren verschieben und damit die neuen Mehrheiten auch Macht in den Staaten beanspruchen werden. Die "Unterwerfung" ist kein literarisches Schauerszenario, sondern wird überall im Westen Realität werden. Das würde selbst dann gelten, wenn die Masseneinwanderung nicht weiter fortschritte, wovon keine Rede sein kann. Es ist bereits jetzt zu spät. Das liberalistische System ist an seiner Permissivität bereits zugrunde gegangen, es hat dies nur noch nicht bemerkt.

Was könnte nicht sonst noch alles passieren jetzt oder bald oder später. Die europäische Union könnte weiter am Südrand auseinanderbrechen, genauso ungeordnet und unprofessionell wie zur Zeit am Nordwestrand, und Deutschland bliebe auf einer Billion Euro Targetsaldo für immer sitzen. Eine weltweite Finanzkrise könnte uns alles an Vermögen und Ersparnissen nehmen außer unserem Grund und Boden. Die nächste deutsche Regierung könnte auch den Grund und Boden verstaatlichen und den Besitz sonstigen Nichteuro-Kapitals verbieten. Unsere Energieversorgung, jedenfalls in Deutschland, könnte zusammenbrechen, und das nicht nur für Tage, sondern für Wochen, Monate, noch länger. Die Amerikaner könnten einen nuklearen Krieg mit Rußland anzetteln mit uns als Kollateralschaden. Jedes dieser Szenarien hat eine gewisse Eintrittswahrscheinlichkeit und würde uns mehr oder weniger gründlich auslöschen. Aber auch wenn das Schicksal uns all dies ersparen sollte, ist gewiß, daß Westeuropa in einen bunten Teppich von Stammesgebieten und Clanzellen zerfallen wird. Das wird jenseits der Kategorien von Staatlichkeit ablaufen, wie wir sie in den 1990er Jahren noch hatten.

Wie zwölf Jahre zuvor den Fall der Mauer sahen wir 2001 mit ähnlichem Befremden die Bilder der fallenden Türme, und wieder wußten wir gleich, daß das, was man glauben könnte zu sehen, nicht das sein konnte, was wirklich geschah. Wir sahen die Ästhetik einer präzisen Sprengung zweier (wie wir später erfahren sollten: dreier) Türme, die als Sprengung der Weltordnung gedacht war. Hellsichtig bezeichnete Stockhausen die Anschläge als das größte Kunstwerk. Amerika läutete seinen eigenen und unseren Abstieg ein, während etwa zur gleichen Zeit Rußland nach dem Desaster der Gorbatschow- und Jelzin-Jahre sich wiederzuerschaffen begann.

Wir können auch im Deutschland des frühen 21. Jahrhunderts noch recht bequem und einigermaßen frei von Bevormundung leben dort, auf unserer Roten Schanze, wo wir uns zur Kontemplation niedergelassen haben. In Mecklenburg, heißt es, geht die Welt erst 50 Jahre später unter. Dem kulturellen Verfall der westlichen Gesellschaft und dem Zerfallen deutscher und europäischer Infrastruktur entgehen wir auch hier nicht. Der Westen ist am Ende. In den nächste drei Jahrzehnten wird sich auseinandersortieren müssen, was zwischen Atlantik und Schwarzem Meer als gescheiterter Staat im Chaos der nächsten Völkerwanderung versinken will und was zur Sezession und für neue Bündnisse bereit ist.


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Хотят ли русские войны?

Jewgeni Jewtuschenko


Hieronymus Bosch, Die Anbetung der Heiligen drei Könige (Ausschnitt)
Quelle: Wikimedia Commons, Public Domain

Es herrscht frappierende Verblendung in Westeuropa seit dem großen Krieg. Mit diesem wollten und konnten die Sowjet-Russen nichts mehr zu tun haben, hatten sich um ihr eigenes Land zu kümmern und zahlten für den Frieden einen ähnlich hohen Preis, wie Deutschland das nur wenige Monate später selbst tun sollte. Stalin erfand den Sozialismus in einem Land, verabschiedete sich 1926 von der Idee der Weltrevolution, liquidierte den Weltrevolutionär Trotzki, und keiner in Westeuropa nahm all das zur Kenntnis. Die Russen trugen die Hauptlast im Sieg über das Dritte Reich im nächsten großen Krieg und Amerika profitierte. Seitdem ist Amerika die über Westeuropa und den Rest der Welt gesandte Plage, und den ganzen kalten Krieg lang erkannten die Westeuropäer das nicht. Das Sowjetimperium ging unter, die Welt wandelte sich binnen Monaten in eine unilaterale, und es wäre endlich an der Zeit gewesen, einmal innezuhalten und nachzudenken, aber Westeuropa wähnte sich siegend und sägte an dem Ast, auf dem es saß. Zehn Jahre später, als auch der Untergang Rußlands in greifbare Nähe gerückt war, gab das Land sich einen neuen Präsidenten. Der begann damit, daß er zur Welt sprach. Wir erinnern uns noch gut an die berührende Rede im deutschen Bundestag, ein Werben um Beziehung und Zusammenarbeit, und dazu an das Mienenspiel einiger Rotzlöffel in den vorderen Reihen. Der zweite kalte Krieg begann, und die Westeuropäer verstanden noch immer nicht, wer ihr wirklicher Gegner ist. Amerika wählte sich seinen meistgehaßten Präsidenten, der den besonderen Vorzug besitzt, die amerikanischen Interessen beim Namen zu nennen, und Westeuropa will es immer noch nicht wahrhaben. Wenn die Amerikaner demnächst den dritten Weltkrieg gegen Rußland oder China vom Zaun brechen, wird Westeuropa endgültig nichts verstanden haben.

Schlimmer noch: Westeuropa wäre mittlerweile ohne die Plage Amerika noch schlechter dran. Der westliche Zipfel Eurasiens, fünfhundert Jahre lang das kulturelle Zentrum und der Kolonisator der Welt, Hort des Kapitalismus und Sozialismus, ist bedeutungslos geworden. Hundert Jahre Spielwiese, Flugzeugträger und Raketenbasis Amerikas gegen seinen Hauptgegner, wird es nicht mehr gebraucht, seit das geopolitische Interesse Amerikas sich neuen Gegnern zugewandt hat: China und Persien. Die europäische Union ist wirtschaftlich irrelevant geworden, die NATO militärisch, das Abendland kulturell. Amerika hat gerade einen Präsidenten, der das dankenswerterweise offen ausspricht. Das wäre Gelegenheit, die europäische Vasallenschaft enden zu lassen, hätten wir in Europa zu einer überlebensfähigen eigenen Union gefunden. So aber wandelt sich Westeuropa, verbraucht in seinen eigenen Kriegen des 20sten Jahrhunderts, sterbensmüde, zur Brutstätte fremder, südlicher Rassen und Kulturen. Amerika, geschieden von uns durch zwei Ozeane und selbst mit einem eigenen Süden geschlagen, sieht es nicht ungern, wenn Rußland und das Herzland vollständig von einem Gürtel islamisierter Staaten umschlossen sind.

Alle Dinge haben zwei Seiten. Wohl war das beste, was dem östlichen Mitteleuropa passiert ist, daß ihm die zwangsweise Westbindung erspart blieb und es sich weitgehend aus eigener Kraft aus den Katastrophen des 20sten Jahrhunderts herauswinden mußte. Andererseits hat Ostmitteleuropa von der Einbindung in den europäischen Wirtschaftsraum außerordentlich profitiert. Den Schwur will es aber nicht für eine politische Union gelten lassen, von kultureller Anverwandlung ganz zu schweigen. Das östliche Europa sperrt sich, fremden Rassen, einer fremden Religion, fremden Kulturen auf archaischem Niveau Zugang zu gewähren. Im Osten nimmt man auch wenig Rücksicht auf die Partikularinteressen perverser Randgruppen.

Aber es ist nicht jeder frei, der seiner Ketten spottet. Wenn Osteuropa eine Zukunft haben will und sich nicht an die untergehende westeuropäische Union binden will, wird es sich in den vor uns liegenden 30 Jahren radikal umorientieren müssen. Die Ungarn sind schon ein Stück weiter, scheinen sogar die Sehnsucht nach einer erneuerten, austrifizierten europäischen Union als irrational erkannt zu haben, aber die ostmitteleuropäischen Völker werden einen nach den Erfahrungen der letzten drei Jahrhunderte schmerzhaften Schritt tun müssen. Irgendwann sollten die Polen und Balten begreifen, daß der Kampf um den Zugang zur Ostsee Historie ist und daß Rußland keinen sozialistisch-präkommunistischen Ostblock mehr benötigt, sondern seine Souveränität in den Grenzen seines Reiches erhalten will. Daß sie von ihrem neugewählten angloamerikanischen Hegemon nichts mehr bekommen werden als Raketen- und Raketenabwehrsysteme, gerichtet auf einen vermeintlichen Gegner, der nicht mehr ihr Gegner ist und den sie bald nicht mehr als ihren Gegner werden betrachten können bei Strafe ihres Untergangs in den Armen des Westens.

Die stockende Angleichung der Lebensverhältnisse im Beitrittsgebiet an westdeutsche Standards ist ein großes Glück. Gewiß: Viele derer aus dem Anhaltinischen, Thüringischen oder Mecklenburgischen, die Arbeit haben, haben diese im Westen. Uns selbst ging es ja all die Jahre nicht anders. Aber die Lücken in der gleichmäßigen Bespaßung, abweisendes gesellschaftliches Klima und schlechtere infrastrukturelle Voraussetzungen zur Clusterbildung halten viele Einwanderer von der östlichen Provinz fern. In unserer Markt- und der Garnisonsstadt sehen wir gelegentlich auch die eine oder andere Burkafrau, aber die Zahl der sichtbar werdenden Einwanderer ist gering im Vergleich zu dem, was man zum Beispiel in der tiefen hessischen Provinz erleben kann. Nur in wenigen Residenz- und Industriestädten des Beitrittsgebiets ist die Situation angespannt, von Berlin, das leider an seinen Süd- und Westflanken schon weit nach Brandenburg ausstrahlt, natürlich nicht zu reden. Das Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung <https://www.bib.bund.de> veröffentlicht zur demographischen Lage und zu den Unterschieden zwischen West und Ost beeindruckende Informationsgraphiken <https://www.bib.bund.de/DE/Fakten/Fakt/B84-Auslaendische-Bevoelkerung-Kreise.html>, die Hoffnung machen und erstaunlicherweise nicht im Giftschrank gelandet sind. Weiteres kann man wie immer bei Sarrazin </weblog/1379248781:361650.html> nachlesen.

Verwelkte Blüte kehrt nicht zurück. Falls es für Mitteleuropa eine Zukunft unserer Kultur und Lebensweise geben sollte, dann liegt sie in einem neuen Bündnis mit dem Osten des Kontinents. Innerhalb der nächsten 30 Jahre wird der Westen islamisch beherrscht und in eine Reihe sich gegenseitig bekriegender Kalifatsstaaten umgewandelt sein. Das christliche Abendland muß Erneuerung in einem neuen, eurasischen Bündnis mit Rußland finden. Ein Bündnis, das sogar nur mit China wirtschaftlich lebensfähig sein wird. Die Ukraine und Weißrußland, heute Figuren auf dem "Herzland"-Schachbrett der Brzezinskis und Barnetts, werden wieder Teil der rußländischen Föderation sein, wo sie historisch hingehören, und werden sich dafür glücklich preisen können.


Hieronymus Bosch, Das Steinschneiden (Ausschnitt)
Quelle: Wikimedia Commons, Public Domain

Falls wir in dem von der westlichen liberalen Krankheit noch weniger infizierten Teil Deutschlands eine Fortexistenz als Volk wollen, liegt es bei uns, die Sezession zu betreiben und mit Ostelbien als ehemaligem slawischem Siedlungsgebiet oder einschließlich ganz Mitteldeutschland, entlang der Linie des Potsdamer Abkommens, Teil des kontinentalen Bündnisses zu werden. (Und wir können uns überhaupt nicht vorstellen, was aus dem besonderen politischen Gebiet Berlin anderes werden könnte als eben ein besonderes politisches Gebiet.) Wenn wir nicht Widerstand leisten, werden wir in staatlicher Einheit BR-Deutschlands in das poststaatliche Chaos versinken und die Grenze zwischen dem Imperien wird einst die Oder sein, nicht Elbe und Saale. Vielleicht werden wir ja zum Ende unseres Lebens, im letzten Drittel des letzten Drittels sozusagen, in einem Gemeinwesen angekommen sein, das unsere Wertschätzung verdient.

Aber angemessen kulturpessimistisch bezweifeln wir, daß es sich für unser Volk zum Guten wenden wird. Den nötigen Furor wird es wohl nimmermehr aufbringen. Die in den vergangenen 30 Jahren im Osten herangewachsenen Generationen wurden längst der Reeducation </weblog/1453870800:100000.html> unterzogen, und wir befürchten, daß diese erfolgreich sein wird. Wir Reaktionäre, Kulturchauvinisten, Rassisten, Fundamentalisten, Dissidenten und Romantiker werden einmal alle gestorben sein. Doch bis dahin sind wir all dies gern gewesen.


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Warum schreiben wir dies hier? Muß das denn sein: sich in Unfrieden begeben mit seiner Umwelt und Unverständnis ernten bei denen, die lieber nichts sehen, nichts hören, nichts sagen? Wir bewegen doch eh nichts, werden nicht einmal gefunden hier in den hintersten Winkeln des Landes und des Internets. Aber: Wir haben uns unsere Unabhängigkeit erarbeitet und besitzen nun die Freiheit, uns, wie Jünger vorschlug, ein W auf die Mauer zu malen, das für "Widerstand" stehen mag. Wir pflegen unsere Attitüde der Verweigerung im monastischen Geist </weblog/1537515549:642482.html>, der uns bleibt, da uns jede andere Form des Aufbegehrens zu erregt und profan scheint.

Wir erinnern uns an ein Mensagespräch mit Studienkollegen, das könnte 1985 oder 1986 gewesen sein. Es ging um die Frage, ob man nicht seiner Karriere etwas Gutes tun sollte und in die Partei eintreten. Wir selbst vertraten die Auffassung, daß man so etwas lieber sein lassen sollte. Wir meinten, es könnte ja durchaus auch wieder einmal anders kommen, und führten das Beispiel unseres Großvaters an, der in die NSDAP eintrat, um Bahnhofsvorsteher im Thüringischen werden zu können. Ein Schritt, der seine Familie im Jahre 1945 wieder in recht schlichte Verhältnisse zurückwerfen sollte. Das Gespräch wurde recht einsilbig angesichts solch lästerlicher Rede und es mag für den 25-jährigen vermessen gewesen sein, davon zu sprechen, daß die Verhältnisse sich drehen könnten, was in jenen Jahren ja noch nicht mit Händen zu greifen war, aber er sollte recht behalten.

Aus dem Leben unseres anderen Großvaters könnten wir hier auch Lehren anführen. Fabrikdirektor in einer sächsischen Kleinstadt <https://www.torgauerzeitung.com/default.aspx?t=newsdetailmodus(78758)>, ein aus proletarischem Stand Hochgearbeiteter auch er, Preuße und Monarchist durch und durch, galt als großer politischer Kopf seines Ortes, mußte aus seinen Überzeugungen auch nie ein Hehl machen. Zuhören hatte ihm offenbar keiner wollen. 1945 sagte wohl der eine oder andere zu ihm: "Ach, Herr Roloff, wir haben das ja alles nicht gewußt." Man hört das ja nach jedem Epochenumbruch, wird es auch nach dem nächsten wieder hören. "Ihr hättet nur lesen müssen, was er geschrieben hat, dann hättet ihr alles vorher wissen können", war seine Antwort in diesem Fall. Auch mit den Russen kam er dann zurecht. Die Regimes, unter denen er zwei Drittel seines Lebens verbrachte, seit 1918, hat er verachtet, aber er bewahrte seine Eigenständigkeit dank Fleiß, Verstand, Strenge und Widerborstigkeit.

Es lohnt, nein zu sagen, so laut man es halt kann, auch wenn das nur ein bescheidener Beitrag ist. Vielleicht behalten wir ja auch diesmal wieder recht. So ist Geschichte: Über lange Strecken, weit über die Grenzen unserer Geduld und Verzweiflung hinaus liegt sie mit bleierner Schwere auf uns und Trost spendet nur die Dialektik. Und dann macht sie gelegentlich unerwartete Wendungen, angestaute Quantität schlägt in Qualität um, sie springt von Negation zu Negation, daß es wie ein einziges großes Fest ist. Fegt Staaten hinweg und auch wieder deren Nachfolgestaaten, 1871, 1933, 1945, 1989, 2037, und jedes mal, wenn solches geschieht, ist es eine berauschende Zeit und alles scheint möglich. Doch: Wir denken, das werden wir noch einmal erleben.